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#010 Eisübersättigung als Wettervorhersage

Wenn man unbedarft auf diesem Blogartikel gelandet ist, könnte man bei dieser Überschrift vermuten, dass es sich hier um den Versuch einer Wettervorhersage anhand des eigenen Eiskonsums handelt. Aber in der Meteorologie hat der Begriff „Eisübersättigung“ wenig mit Stracciatella, Pistazie und einem zu kleine Magen zu tun, sondern mit der Fähigkeit der Luft ,mit dem Angebot von Wasserdampf bei sehr kalten Temperaturen umzugehen. Doch fangen wir erstmal mit einer Schüssel Wasser bei Zimmertemperatur an.

Sättigung

Der Begriff „Sättigung“ beschreibt in der Thermodynamik (auch Wärmelehre genannt) ein dynamisches Gleichgewicht an der Grenzfläche zwischen einer kondensierten Phase (z.B. flüssiges Wasser oder Eis) und der Gasphase (also der „Luft“).  Solch eine Grenzfläche haben wir auch in unserem Beispiel mit der Wasserschale. 

Bild 1: Eine Schale mit Wasser. Einige H2O-Moleküe „fliegen“ heraus, andere „tauchen“ ein. (c) Philipp Reutter

Die Wassermoleküle in der Schale (Bild 1) sowie in der umgebenden Luft befinden sich in ständiger Bewegung. Erreicht die kinetische Energie eines Wassermoleküls in der flüssigen Phase einen Wert, der die Bindungsenergie innerhalb des flüssigen Wassers übersteigt, so verlässt es das Wassergefäß. Die Rate für diesen Vorgang, also wie viele Moleküle innerhalb eines gewissen Zeitfensters aus dem Wasser „herausfliegen“, hängt stark mit der Temperatur des Wassers und der umgebenden Luft zusammen.

Nun gibt es auch die andere Richtung, nämlich in der Luft umherfliegende H2O-Moleküle, die auf die Wasseroberfläche treffen und „eintauchen“. Die Rate für diesen Prozess hängt zusätzlich noch von der Konzentration der Wassermoleküle in der Luft ab. Je mehr H2O-Moleküle, also je feuchter, die Luft ist, umso höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Wassermoleküle in die Wasserschale übergehen. 

Ist bei einer festen Temperatur die Konzentration von Wassermolekülen in der umgebenden Luft genau so, dass die Austauschraten durch die Wasseroberfläche in beiden Richtungen gleich ist – also die gleiche Anzahl an Wassermolekülen fliegt aus der Wasserschale heraus wie hinein – dann spricht man davon, dass die umgebende Luft gesättigt ist. 
Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von der relativen Feuchte gesprochen. Diese ist definiert als das Verhältnis des Dampfdruckes (der Teil des Luftdrucks, der durch die Präsenz von Wassermolekülen hervorgerufen wird) und dem Sättigungsdampfdruck. 

Bild 2: Der Sättigungsdampfdruck von Wasser – eine Exponentialfunktion.

Der Sättigungsdampfdruck, oder eben auch Gleichgewichtsdampfdruck, ist genau dieser Dampfdruck bei einer gegebenen Temperatur, bei der die beiden oben genannten Raten gleich sind. Sind der Dampfdruck und der Gleichgewichtsdampfdruck gleich, so haben wir eine relative Feuchte von 100%, also Sättigung.  Der Zusammenhang zwischen Sättigungsdampfdruck und Temperatur ist mit einer Exponentialfunktion (Bild 2) verknüpft – Hobby-Viro- und Epidemiologen wissen Bescheid. Daher kommt auch die etwas hinkende Analogie von der Luft als Schwamm: je wärmer es ist, umso mehr Wasserdampf kann die Luft „halten“.

In der Atmosphäre ist es nun so, dass bei übersättigter Luft (relative Feuchte größer als 100%) und genügend vorhandenen Kondensationskeimen, den sogenannten Aerosolen (auch hier wieder ein Gruß an die Medizin), der Wasserdampf kondensiert – es bilden sich kleine Wolkentropfen. Passiert das, wie nun häufig im Herbst, in Bodennähe, so beobachten wir Nebel. Wasserdampf kondensiert dabei solange wie eine Übersättigung vorhanden ist. Natürlich sinkt nun bei der Kondensation die Übersättigung, da die Wassermoleküle aus der Luft in die Wassertröpchen übergehen. Beim Erreichen der Sättigung hört die Kondensation auf. Sind die Bedingungen so, dass die Luft ungesättigt ist, also die relative Feuchte ist kleiner als 100%, so schrumpfen die Wassertröpchen bis sie schließlich ganz verschwinden.

Bild 3: Nebel an einem Oktobermorgen in Rheinhessen (c) Philipp Reutter

Bei der Tröpfchenbildung ist es dabei wichtig, aus welchen Komponenten diese Aerosole bestehen. Hydrophile (im Wasser löslich) Stoffe wie Schwefelsäure sind dabei hilfreicher als hydrophobe (unlöslich) Partikel wie Ruß. 
Fehlen die Kondensationskeime wird es für die Wassermoleküle schwieriger, sich zu einem Tropfen zusammenschließen.  Dann benötigt man schon eine Übersättigung von mehreren hundert Prozent. Dieser Fall ist für unsere Atmosphäre aber unrealistisch, da immer Aerosole aus den unterschiedlichsten Quellen in der Troposphäre unterwegs sind. Das führt dazu, dass schon bei sehr geringen Übersättigung, typischerweise bei relativen Feuchten bezüglich Wasser zwischen 100,5% und 102%, die Tröpfchenbildung einsetzt.

Neben vielen natürlichen Quellen können Aerosole auch aus menschgemachten Quellen wie z.B. Auto- oder Industrieabgasen kommen. Dies ist also ein weiteres Gebiet, bei dem die Menschheit Naturprozesse beeinflusst.

Und nun zum Eis

Bis jetzt kam in unseren Überlegungen nur das flüssige Wasser vor. Wie sieht es aber mit gefrorenem Wasser aus? Dort ist das Sache ungleich schwieriger, da wir es bei Eis mit einer Kristallstruktur zu tun haben. Aber auch hier gilt die gleiche Definition der Sättigung – die Austauschraten durch die Eisoberfläche sind gleich. Lediglich der exponentielle Zusammenhang zwischen Temperatur und Sättigungsdampfdruck bezüglich Eis ist leicht unterschiedlich zum flüssigen Wasser (dies wird in einem noch zu schreibenden Blogbeitrag wichtig, bei dem es um den Wegener-Bergeron-Findeisen-Prozess gehen wird). Es zeigt sich aber, dass geringe Übersättigungen, diesmal bezüglich von Eis, nicht ausreichen, um Eiskristalle zu bilden, auch wenn Aerosole vorhanden sind.

Hier nochmals die Erinnerung, dass wir hier nun über die relative Feuchte bezüglich Eis und nicht mehr bezüglich Wasser reden. Das ist ein wichtiger Unterschied!

Bild 4: Ein Eiskristall Rubelson, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

So kommt es nun nicht nur auf die chemischen Bestandteile der Aerosole, wir sagen auch gerne Eisnukleationskeime dazu, an, sondern auch noch auf deren Struktur! Die komplizierte Form des Eises kann sich nicht auf jeder Oberfläche bilden, daher spielt auch die Oberfläche der zur Verfügung stehenden Aerosole eine große Rolle. Nur etwa 1 Aerosol aus 1 Million Aerosolen erfüllt die Bedingungen für die Bildung eines Eiskristalls!

Dies ist nur ein Grund warum sich Cirren, die nur aus Eiskristallen bestehenden federhaften Wolken in der oberen Troposphäre, nicht bei geringer Übersättigung bilden können. Hierfür sind Übersättigungen von bis zu 140% bezüglich Eis notwendig, im Gegensatz zu etwa 102% bezüglich Wasser bei flüssigen Tropfen. Das bedeutet z.B. dass sich bei einer geringen Übersättigung keine Eiswolken bilden können; vorhandene Eiswolken können sich aber nicht auflösen. Und hier betreten wir nun das Gebiet der Kondensstreifen von Flugzeugen.

Die heißen Abgase zusammen mit einer Vielzahl von Aerosolen aus der Verbrennungsreaktion der Flugzeugtriebwerke führen kurz hinter dem Flugzeug zur Bildung von flüssigen Wolkentropfen. Durch Mischung mit der kalten Umgebungsluft frieren diese jedoch sehr schnell zu kleinen Eiskristallen. Bei der Mischung mit der Umgebungsluft kommt es aber nicht nur auf die Temperatur an, sondern auch die darin enthaltene Feuchte. 

Bild 5: Ein Flugzeug auf Reiseflughöhe mit Kondensstreifen.. (c) Philipp Reutter

Ist die umgebende Luft sehr trocken, so werden sich diese Kondensstreifen auch sehr schnell auflösen. Das ist vor allem in einem kräftigen stabilen Hochdruckgebiet der Fall. Dies führte zum Beispiel in der Öffentlichkeit zu der irrigen Annahme, dass der blaue Himmel während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 auf den fehlenden Flugverkehr zurückzuführen wäre. Tatsächlich war die Luft in großer Höhe nur sehr trocken, was zu einem sehr blauen Himmel führte. 

Fliegt das Flugzeug aber durch eine eisübersättigte Luftmasse, so lösen sich die Kondensstreifen nicht auf – sie bleiben lange bestehen. Ist die Übersättigung aber geringer als für die Bildung von natürlichen Cirren notwendige, so haben wir nun durch das Flugzeug eine Wolke, wo sich natürlicherweise keine gebildet hätte. In dieser Höhe haben Wolken vor allem einen wärmenden Effekt, welcher den durch die CO2-Emission verursachten negativen Einfluss der Luftfahrt auf das Klima noch verstärkt. 

Bild 6: Beispiel von langlebigen Kondensstreifen, hervorgerufen durch eine Militärübung über dem Pfälzer Wald 18.November 2020. Die Bedingugen für natürliche Cirren ware nicht erfüllt, allerdings lösten sich die Kondensstreifen nicht mehr auf. Die obere Troposphäre (zwischen ca. 6 und 10 km) ist also eisübersättigt. Ohne Flugzeuge hätte es zu diesem Zeitpunkt keine Wolken gegeben. (c) Philipp Reutter

Wie war das mit der Wettervorhersage?

Wir haben also gelernt, dass Wolken sich bei Untersättigung auflösen. Dies gilt auch natürlich auch für die Kondensstreifen, was sich manchmal für eine Abschätzung des kommenden Wetters der nächsten Stunden nutzen lässt – sofern man keine Wetterapp auf dem Handy hat…

Bei stabilen Hochdruckwetter ist es, wie schon erwähnt, in der oberen Troposphäre sehr trocken. In solch einer Situation lösen sich Wolken auf und Kondensstreifen haben nur eine sehr kurze Lebenszeit. Das Wetter ist und bleibt in der Regel schön. Nähert sich nun schlechtes Wetter z.B. in Form einer Warmfront, sieht man dies zuerst an einem Ansteigen der Feuchtigkeit in großer Höhe. Die wärmere Luft gleitet dabei über die kältere Luft auf. Durch dieses Aufsteigen kühlt die wärme Luft ab und die relative Luftfeuchtigkeit dieser Luftmasse steigt (der Sättigungsdampfdruck der Luft sinkt mit sinkender Temperatur, vgl. Bild 2). Da man aber selten Messungen in der oberen Troposphäre zur Hand hat, kann man hier nun auf die Kondensstreifen zurückgreifen. Lösen diese sich nicht auf sondern werden immer breiter und sind über Stunden sichtbar, dann ist das ein Zeichen dafür, dass die Luft auf Reiseflughöhe eisübersättigt ist. Ein Indiz dafür also, dass sich „schlechtes“ Wetter nähert. 

Bild 7: Sonnenuntergang im goldischen Mainz mit älteren und frisch entstandenen Kondensstreifen am Himmel. (c) Philipp Reutter

Diese „poor man’s“-Wettervorhersage ist aber eher als „Daumenregel“ zu verstehen. So einfach und klar ist es in der Natur natürlich nicht immer. Eisübersättigte Gebiete sind nicht immer große homogene Gebiete. Sie können je nach Bedingungen auch sehr klein mit einer horizontalen Ausdehnung von wenigen hundert Metern sein, was „unterbrochene“ Kondensstreifen erklärt. Ein Thema für einen weiteren Blogeintrag…

Bild 8: Die Kondensstreifen über Mainz sind immer mal wieder unterbrochen. Dies zeigt, wie kleinräumig die Eisübersättigung sein kann. (c) Philipp Reutter

Das war ein kurzer Überblick zum Thema Eisübersättigung. Die Expertinnen und Experten werden gemerkt haben, dass viele Aspekte gar nicht beleuchtet wurden. Hierfür reichen ein paar hundert Wörter leider nicht aus. Außerdem bergen die Eiswolken noch viele Geheimnisse. Am Institut für Physik der Atmosphäre an der JGU Mainz wird daher in vielen Projekten durch Messungen vor Ort, theoretischen Überlegungen und dem Einsatz neuester Methoden aus der Informatik an der Entschlüsselung dieser Geheimnisse gearbeitet.

Bild 9: Kondenstreifen unterschiedlichen Alters über den Felden von Mainz. (c) Philipp Reutter

Fragen direkt an Philipp Reutter per Email oder Twitter